Komm doch
herein!"
Diese, von einem
angetrunkenen Gast in einer südbadischen Dorfkneipe ausgesprochene Einladung,
hätte ich gerne angenommen, wenn er sie so gemeint hätte, wie sie auf den ersten
Blick schien. Die "Einladung" bezog sich, wie ich aus den danach
folgenden Äußerungen sehr schnell begreifen sollte, auf meine dicken
Brillengläser. Eine Diskussion mit dem Gast über die von ihm angesprochenen
"Glasbausteine" hätte ihm vielleicht die Augen dafür geöffnet, warum
ich eine solch starke Sehhilfe tragen muss, doch er hatte mich in einer
Lebensphase erwischt, in der ich zu solchen "Aufklärungsgesprächen"
nicht fähig war. Heute, etwa 15 Jahre nach diesem Kneipenbesuch, kann und will
ich mit Jedem ‑ und ich hoffe, dazu zählen auch Sie, liebe Leser ‑
über meine Sehbehinderung und deren Folgen sprechen.
Eine der
häufigsten Fragen, die mir gestellt wird, ist: "Wie viel oder was siehst
Du?". Eine klare Antwort darauf kann ich nicht geben, denn ich habe noch
nie gut gesehen, so dass ich den Grad der Beeinträchtigung nicht schildern
kann. Den einzigen Vergleich den ich ziehen kann, ist der zwischen einem
Restsehvermögen von etwa 1/3, den ich bis zum 25. Lebensjahr hatte, und der
heute fast völligen Erblindung. Alles ist gleich groß geblieben aber
undeutlicher geworden. Die Entfernung, ab der ich z. B. Autos sicher erkennen
kann, hat erheblich abgenommen. Im allgemeinen kann ich mich aber im
Straßenverkehr noch gut bewegen, was selbst meine frühere Augenärztin nicht
nachvollziehen konnte. Sie sagte einmal während eines Behandlungstermins zu
mir: "Wenn ich nicht wüsste, wie wenig Sie sehen, würde ich es nicht
glauben. Sie rennen ja förmlich durch die Stadt". "Alles
Training", lautete meine Antwort.
Sie sehen, es ist
nicht leicht mein "Sehen" zu begreifen. Selbst die Menschen die des
Öfteren mit mir zu tun haben, sind immer wieder erstaunt über das was ich sehe
oder auch nicht sehe.
In geselliger
Runde passiert es schon mal, dass Jemand meine Brille ausprobieren möchte. Die
etwa 15 Dioptrien wirken, wenn man sie vor dem gesunden Auge trägt, wie eine
Lupe. Meist heißt es dann: "Ich kann ja gar nichts mehr sehen". Um
die Stimmung etwas aufzulockern, antworte ich dann oft: "Siehst Du, aber ich
soll damit etwas erkennen können". Tatsächlich ist es aber so, dass diese
starken Gläser meine, durch den Grauen Star geschädigten und operativ
entfernten, Augenlinsen ersetzen sollen.
Die wohl
gravierendsten Folgen hatte meine Sehbehinderung bei der Wahl des Schulsystems
und bei der Berufsausbildung und -tätigkeit. Zunächst wurde ich auf anraten
unseres "Dorfschulleiters" in der Grundschule im nordpfälzischen
Feilbingert unterrichtet. Herr Steinbach konnte dabei auf die mit meinem
ebenfalls sehbehinderten Vater gemachten Erfahrungen zurückgreifen. Das Zögern
meiner Eltern, mich in eine "Regelschule", wie sie in Blinden- und
Sehbehindertenkreisen oft genannt wird, zu schicken, beantwortete er mit den
Worten:
"Versuchen
wir es". Ich bekam einen Platz in der ersten Reihe, direkt hinter dem
Lehrerpult zugewiesen. Dieser Vorteil reichte aber nicht aus, um das, was an
der Tafel geschrieben stand, zu lesen und ich musste beim
"Abschreiben" ständig im Klassenraum spazieren gehen. Meine
schulischen Leistungen waren gut, so dass man im Nachhinein sagen kann, der
Versuch hatte Erfolg.
Als größten
Nachteil in diesen Jahren würde ich einige meiner Mitschüler bezeichnen. Sie
hatten mein "Anderssein" sehr schnell bemerkt und nutzten dies
rigoros für Streiche und Hänseleien aus und auf dem Schulweg war ich oft
körperlichen Angriffen ausgesetzt. Meine Mutter meinte immer ich solle mich
wehren, doch wie ich das gegen meist mehrere und oft auch ältere Jungen machen
sollte, konnte sie mir leider nicht sagen.
Im vierten
Schuljahr bekam ich einen anderen Lehrer. Dieser sorgte für das einzige
"mangelhaft" in einem meiner Schulzeugnisse und zwar für meine etwas
zu groß geratene Handschrift. Er war es schließlich auch, der meine Eltern dazu
drängte, mich ab dem fünften Schuljahr auf eine Sehbehindertenschule zu
schicken. So kam ich im August 1970 in die "Backsteinhöhle", wie wir
als Kinder und Jugendliche die Blinden- und Sehbehindertenschule in Neuwied
bezeichneten.
Das
Internatsleben war zwar zunächst ungewohnt für mich, doch nach einiger Zeit
hatte ich mich an die Spielregeln gewöhnt und konnte sie hier und da zu meinem
Vorteil nutzen. Das Verhältnis zu Schulkameraden und "Zimmergenossen"
war gut. Im schulischen Bereich konnte ich mich soweit steigern, dass man mir
nach der 7. Klasse riet auf ein Aufbau-Gymnasium zu gehen. Die Aufnahmeprüfung
zu dieser Schule bestand ich zwar, doch wollte ich nicht erneut die Fronten
wechseln und blieb bis zum Hauptschulabschluss in der Sehbehindertenschule.
Da unsere Familie
zwischenzeitlich nach Villingen im Schwarzwald umgezogen war, besuchte ich ab
1975 in der Sehbehinderten- und Blindenschule "Nikolauspflege" in
Stuttgart die Wirtschaftsschule und schloss diese 1978 mit der Fachschulreife
ab.
Nun stand die Berufswahl
im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Ich entschied mich für eine Ausbildung zum
Masseur und medizinischen Bademeister. Nach erfolgreich absolviertem Grundkurs
(spezielles Vorbereitungshalbjahr für Blinde und Sehbehinderte) brach ich diese
Lehre ab, weil ich der Meinung war - und auch heute noch bin - dass dies nicht
der geeignete Beruf für mich ist.
Während meiner
"Stuttgarter Zeit" wurde ich in einem schulbegleitenden Lehrgang zum
Betriebstelefonisten ausgebildet. Das dabei erworbene Zeugnis war Grundlage
meiner Bewerbung beim Landratsamt in Lörrach. Ich arbeitete dort 4 Jahre als
Telefonist. Personalpolitische Umstände und meine eigene Unzufriedenheit mit
dem Erreichten führten zu einer Entscheidung, die ich bis heute nicht bereue.
Ich begann im Alter von fast 23 Jahren eine Lehre als
Verwaltungsfachangestellter zusammen mit 7 sehenden
"Mitauszubildenden". Als ich im Januar 1986 die Prüfung erfolgreich
bestanden hatte, wollte mich zunächst keiner der Abteilungsleiter freiwillig in
einem der Ausbildung entsprechenden Sachgebiet einsetzen, obwohl sich alle
während der Lehrzeit positiv über meine Arbeitsleistung, trotz meiner
Sehbehinderung, geäußert hatten.
Nach dem Motto
"Was ein Sehender an einem halben Tag schafft, schafft ein Mensch mit
Sehbeeinträchtigung in einem Ganzen", wurde ich der Rechnungsstelle des
Sozial- und Jugendamtes zugewiesen, wo man schon seit längerem eine
Halbtagskraft benötigte. Ich arbeitete die vorhandenen Rückstände auf und nach
etwa einem halben Jahr verbrachte ich die Hälfte meiner Arbeitszeit mit dem
Lösen von Kreuzworträtseln und dem Lesen von Büchern. Meine Bemühungen um einen
anderen Arbeitsplatz in der zuvor genannten Verwaltung wurden jahrelang mit den
Worten "Wir sind der Meinung, sie können das nicht" zunichte gemacht.
Ich konnte und
wollte mich mit dieser, bis heute unbegründet gebliebenen, Aussage nicht
abfinden und suchte mir bei meinen Kollegen "Arbeit", die ich auch
bereitwillig von ihnen bekam.
Eine Wende
brachte der Winter 1989/90. Mein rechtes Auge, dass ab Ende 1986 meinte
"Sehen ist Luxus", bildete ab diesem Zeitpunkt entzündliche
Hornhautreizungen aus. Jede Bewegung des linken, noch sehenden, Auges wurde von
rechts mit einem schmerzenden Stich quittiert. Noch während der daraus
resultierenden Arbeitsunfähigkeit erkundigte ich mich bei anderen Blinden und
Sehbehinderten, welche Arbeiten sie in ähnlichen Behörden verrichten. In einer
Nachbarstadt arbeitete ein Blinder als Wohngeld-Sachbearbeiter. Als ich dies
meinem Arbeitgeber berichtete, stand für diesen fest, dass auch ich
Wohngeld-Sachbearbeiter werde. Über Alternativen wurde erst gar nicht
gesprochen.
Die Tätigkeit bei
der Wohngeldstelle erwies sich als Glückstreffer. Endlich hatte ich eine meiner
Ausbildung entsprechende Stelle. Ich arbeitete mit moderner Technik. Diese
ermöglichte es mir meine Augen und meine Hände beim Lesen und Schreiben zu
kombinieren. Nach 2 Jahren hatte ich mich so gut in das Sachgebiet
eingearbeitet, dass ich, statt der zunächst veranschlagten 70 %, als
vollwertige Arbeitskraft galt. Einen Versuch mich auf der Karriereleiter durch
eine weitere Ausbildung weiter nach oben zu arbeiten, lehnte man mit dem
Hinweis ab, ich hätte schon während der ersten Ausbildung Probleme mit meinen
Augen gehabt. Auf fachliche Fähigkeiten und die durch technische Hilfsmittel
geänderten Verhältnisse ging man in dem Schreiben erst gar nicht ein. Ich
dachte zunächst daran gegen diesen Bescheid vorzugehen, doch dass wäre
angesichts der folgenden Ereignisse vergebene Liebesmühe gewesen.
Im Jahre 1991 ging
meine 1985 geschlossene Ehe in die Brüche. Gegen Ende dieser Beziehung besuchte
ich meinen früheren Jugendschwarm. Auch ihre 1976 geschlossene Ehe war in
dieser Zeit scheidungsreif geworden. Wir beschlossen Ende 1991 unseren
Lebensweg zusammen fortzusetzen. Da ich in Lörrach nicht heimisch geworden war,
war die Frage meines zukünftigen Lebensmittelpunktes schnell entschieden.
Ich kündigte mein
Arbeitsverhältnis und zog zusammen mit meiner heutigen Ehefrau und ihren zwei
schulpflichtigen Kindern in ein stark renovierungsbedürftiges Haus in
Weißenthurm bei Neuwied. Bei der Renovierung unseres Eigenheimes habe ich,
soweit es mir möglich war, kräftig mitgeholfen. Zeit genug dazu hatte ich, denn
der Umzug nach Weißenthurm war ein Umzug in die Arbeitslosigkeit.
Die meisten
meiner Bemühungen in den vergangenen 5 Jahren eine neue Stelle zu finden,
schlugen, trotz zahlreicher Bewerbungen fehl. Ende 1992 nahm ich an einer durch
das Arbeitsamt geförderten Bildungsmaßnahme für schwerbehinderte Arbeitslose
teil. Zu Beginn des Kurses besuchte uns ein Mitarbeiter der Arbeitsvermittlung.
Mit Sätzen wie: "Wer heute keinen Arbeitsplatz findet, hat entweder keine
qualifizierte Ausbildung oder ist faul" versuchte er uns zu motivieren.
Ich fragte mich
und auch ihn, ob eine Verwaltungslehre keine Qualifikation sei. Eine Antwort
darauf ist er mir bis heute schuldig geblieben.
Im Rahmen der
zuvor erwähnten Bildungsmaßnahme absolvierte ich von Januar bis Mai 1993 ein
Praktikum bei der Wohngeldstelle der Stadt Koblenz mit dem Ziel auf diese Weise
einen neuen Job zu bekommen.
Ich arbeitete für
die Stadtverwaltung kostenlos als vollwertiger Sachbearbeiter, denn der
eigentliche Stelleninhaber war in eine andere Abteilung abgeordnet worden.
Obwohl während meines Praktikums oder kurz danach 3 Wohngeldsachbearbeiter aus
der Abteilung ausschieden und man, wenn ich das anschließend erhaltene Zeugnis
richtig lese, mit meiner Leistung zufrieden war, wurde ich nicht in ein
Arbeitsverhältnis übernommen.
Der schlimmste
Tag bei der Stadtverwaltung Koblenz war für mich der letzte Arbeitstag. Es war
ein Freitag. Alle Kollegen waren schon gegangen und ich wartete draußen vor der
Tür auf ein Taxi, das mich und mein in 3 Teile zerlegtes Bildschirmlesegerät
abholen sollte. In dieser dreiviertel Stunde, die Taxifahrerin hatte sich
verfahren, kam ich mir vor, wie ein Aussätziger, mit dem keiner etwas zu tun
haben möchte.
1995 war ich für
neun Monate bei einem Verlag beschäftigt. Der "Boss" dieser Firma
hatte beim Arbeitsamt gezielt nach Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen
nachgefragt. Ich erfüllte traurigerweise beide Bedingungen. Schon wenige Monate
nach der Einstellung wurde mir klar, das diese Firma nicht mehr zahlungsfähig
war und deshalb auf vom Staat unterstützte Arbeitskräfte baute. Auf die noch
ausstehenden Lohnzahlungen und meine Arbeitspapiere warte ich, trotz
rechtskräftigem Urteil, noch heute.
Einen weiteren
"Tiefschlag" versetzte mir ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes, als ich
mich nach einer Umschulungsmöglichkeit zum Steuerfachgehilfen erkundigte.
Er meinte, dass
wäre nichts für mich, denn ich sei ja fünfmal langsamer, als ein Mensch mit
gesunden Augen. Ich entgegnete ihm: "Anscheinend kann sich nur der
öffentliche Dienst so langsame Leute leisten, denn dort habe ich jahrelang
gearbeitet".
Um mir selbst
noch einmal zu beweisen, dass ich trotz der vorhandenen starken
Beeinträchtigung des Sehvermögens in der Lage bin etwas zu leisten, nahm ich am
Telekolleg II teil. Im Juli 1996 erwarb ich auf diesem Wege die
Fachhoch-schulreife. In der Kollegtagschule, in der ich etwa alle 3 Wochen
einen Tag Unterricht hatte und die erforderlichen Prüfungen schrieb, war
übrigens niemand der Meinung, das ich das nicht könne, oder dass ich auf Grund
meiner Sehbehinderung nicht am Kurs teilnehmen könne.
Vielleicht
glauben Sie jetzt, ich sei heute ein verbitterter Mensch.
Ich kann Sie
beruhigen, dieses ist nicht der Fall. Meine Familie und meine Freunde werden
Ihnen das gerne bestätigen. Es ist gut zu Wissen, dass es Menschen gibt, die
einem immer wieder aufbauen können, wenn man das Gefühl hat am
"Boden" zerstört zu sein.
In meiner
jahrelangen ehrenamtlichen Tätigkeit für die Blinden- und
Sehbehindertenselbsthilfe, habe ich erfahren müssen, dass meine
"Karriere" bei weitem kein Einzelfall ist. Ich kann nur hoffen, dass
der gegenseitige Gedankenaustausch anderen genauso hilft wie mir, die
erlittenen Rückschläge leichter zu verkraften und zu verarbeiten.
Meine
Sehbehinderung war und wird mir am Meisten in den Situationen bewusst, in denen
mich andere daran hindern zu zeigen, dass jemand, der noch nicht blind, aber
auch nicht sehend ist, viel mehr leisten kann, als man im Allgemeinen von ihm
erwartet.
Ich werde auch
weiterhin versuchen die Grenzen des noch machbaren aufzuspüren, denn ich möchte
nicht - und das diesmal im übertragenen Sinne - nur vor dem Fenster stehen und
warten bis Jemand sagt:
"Komm doch
herein!".
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